Donnerstag, 5. November 2009

Moosonee: Nachricht vom Ende der Welt

Bisher hatte ich das Ende der Welt irgendwo hinter Sibirien vermutet. Aber seit kurzem weiß ich, wo es wirklich liegt: in Kanada. Per E-Mail bekam ich Nachricht, wie es dort aussieht, am Ende der Welt. Ein wunderschöner Bericht, den ich hier freundlicherweise und nur minimal gekürzt wiedergeben darf. Der perfekte Ort für Freunde der Einsamkeit und Abgeschiedenheit: Trostlosigkeit vom Feinsten. Hier der Bericht:



Neugier ist einer der wichtigsten Wesenszüge des Menschen. Immer schauen, ob es hinter der nächsten Ecke nicht doch noch etwas Neues und Interessantes zu entdecken gibt. Manchmal geht auch der Finger auf der Landkarte auf Reisen und zieht dann letztlich den ganzen, realen Restkörper hinter sich her. So ist es mir jetzt mit Moosonee gegangen.

Moosonee ist ein kleiner Ort sechzehn Stunden nördlich von Toronto am südlichen Zipfel der Hudson Bay, den es wahrscheinlich nur deswegen gibt, weil dort eine Eisenbahnlinie endet. Und die Eisenbahn endet dort, weil es Moosonee gibt. Andere Gründe sind nicht erkennbar. Man kann also direkt aus der brodelnden Metropole Toronto mit der Eisenbahn, und, was den Reiz erhöht, nur mit der Eisenbahn, nach Moosonee ans Ende der Zivilisation fahren.



Für mich klingt Moosonee nach Elchen, Bibern und Bären, nach Wäldern, Kanus und dem Flair von Indianern, Pelzhandel und Hudson Bay Company. Kaum etwas lag also näher als da hin zu fahren.

Direkt in der Nähe der Endstation in Moosonee bzw. mit einem Motorboot von dort zu erreichen, liegt auf einer großen Insel im Moose River ein Reservat der Moose Cree First Nation (also der Cree Indianer). Und da bin ich jetzt. Warum, ist also schnell erklärt. Weil ich wissen wollte, wie das hier so ist. Wegen der Neugier.


Und wie das hier so ist, ist eigentlich auch ganz schnell erklärt: trostlos.


Herrlich trostlos!

In Ermangelung von irgendetwas Erlebenswertem, Sehenswertem, Genießenswertem, sei es Natur, Kultur, Event, Kulinarik, Wildlife, Exkursionen, Abenteuer, Sport, Spaziergänge, Shopping, Nasepopeln ... habe ich mich dazu entschlossen, die Trostlosigkeit an sich zu entdecken. Schließlich ist sie das Einzige, was es hier im Überfluss und in exzellenter Qualität gibt. Vielleicht sogar besser als irgendwo sonst auf der Welt, insofern ein absolut einzigartiges und sehenswertes Fleckchen Erde. Schön, dass ich das erleben darf!



Die Siedlung bedeckt so ziemlich die ganze Insel, somit ist dafür gesorgt, dass keine unnötige Vegetation herumwuchert und man sich auch nicht verlaufen kann. Auf Überflüssigkeiten wie Gehwege oder gar Spazierwege wird praktischerweise verzichtet. Dafür laden die unasphaltierten Straßen mit ihrem anmutigen Gatschbraun zu intensiven Streifzügen ein.

Ein Schneepflug fährt eifrig und zweckentfremdet herum, um den in ausreichenden Mengen vorhandenen Schlamm gerecht auf den Straßen zu verteilen. Links und rechts am Straßenrand hinterlässt er wohlgeformte Matschwälle vor den Hauseingängen. Dabei hätten die Häuser diese zusätzliche Zierde gar nicht notwendig. Jedes fünfte Haus ist ohnehin verfallen oder verlassen, und die große Mehrheit der anderen Häuser hat sich durch kaputte Scheiben und Türen, schiefe oder abgebrochene Treppengeländer sowie durch ein individuelles, desolates Gesamterscheinungsbild gebührend herausgeputzt.


Nicht mehr funktionstüchtige Autos werden nicht etwa entsorgt, sondern traditionellerweise schon seit Generationen zur Zierde des Gartens weiterverwendet. Der Recyclinggedanke wird generell hochgehalten, überall hat man eventuell noch einmal wiederverwertbare Dinge wie kaputte Kinderwägen, Getränkekartons und Plastikflaschen sorgsam aufbewahrt und zur Freude des Auges malerisch verteilt.


Auch das Freizeitprogramm ist breitgefächert und reicht von so attraktiven Events wie der Brustkrebsvorsorgeuntersuchung, über den heimeligen „3 Family Indoor Yard Sale“ bis hin zur brandaktuellen H1N1 Aufklärungsveranstaltung. Nicht zu vergessen der rund um die Uhr geöffnete Alkoholiker-Treffpunkt direkt vor dem einzigen Geschäft im Ort, das überhaupt richtig super ist ... ein Supermarkt!

Während dieser zum Powershopping einlädt, gibt sich das Museum der Gemeinde äußerst kostenfreundlich und darf gratis von Außen besichtigt werden.
Und wer so wie ich gar nicht davon genug bekommen kann, die samt-schlammigen Straßen entlang zu promenieren, um sicher zu gehen, auch ja kein noch so kleines Highlight zu verpassen, den verschlägt es mit etwas Glück in den einzigen naturbelassenen Teil der Insel.

Dort, am Ende einer längeren Passage durch waldartige Landschaft, gut verborgen hinter einer Kurve, bietet sich dem Betrachter der eigentliche Höhepunkt des Reservats: die örtliche Müllhalde. Ein wahrer Augenschmaus mit einzigartigen Exponaten aus der kulturellen Vergangenheit der Region. Hier also befindet sich quasi die Außenstelle des verschlossenen Museums, übrigens wiederum gebührenfrei, und auch die Freunde der Zoologie kommen auf ihre Kosten. Ein subarktischer Krähenschwarm hat in diesem verborgenen Winkel sein geschütztes Biotop gefunden.



Wen es dann doch noch wieder Erwarten von der Insel zieht, der kann für wohlfeile 10 Dollar einen erfrischenden Ausflug mit dem Motorboot zur Siedlung rund um den Bahnhof unternehmen. Dort wird der positive Gesamteindruck weiter verstärkt, denn auch hier gibt es eine ähnliche Vielfalt an Attraktionen zu bewundern wie auf der Insel selbst. Aufgewertet allerdings durch ein staatlich lizenziertes Alkohol-Geschäft hinter formschönen Stahlgittern, die von der hohen Kunstfertigkeit des hiesigen Schlosserhandwerkes zeugen.

Praktischerweise liegt gleich daneben die örtliche Polizeidienststelle. Und natürlich der Bahnhof! Der nächste Zug geht zum Glück erst in drei Tagen. Wie um das Erlebnis perfekt zu machen, fängt es auch noch zu regnen an. Man könnte heulen vor Freude.



User Status

Du bist nicht angemeldet.

Ein paar Worte ...

Archiv

November 2009
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 
 7 
 8 
 9 
10
11
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 
 
 
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kleine Störungsmeldung
Seit gestern funktioniert das neue deutsche Schuhforum...
vsb - 4. Dez, 11:25
www.newsaboutshoes.eu
Falls sich jemand wundert, warum er das neue "News...
vsb - 12. Nov, 00:48
Neues Schuhforum ist...
Seit gestern ist ein neues Schuhforum in deutschsprachigen...
vsb - 6. Nov, 00:35
Moosonee: Nachricht vom...
Bisher hatte ich das Ende der Welt irgendwo hinter...
vsb - 5. Nov, 00:07
Die Jedermann-Schuhe
Die sogenannten „Jedermann-Schuhe“ gab es im Rahmen...
vsb - 4. Nov, 00:07

Suche

 

Status

Online seit 5394 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 27. Feb, 14:34

Credits

Kontakt

vsb1 [at] gmx [dot] at

Aktuell: Newsaboutshoes
Alte Kataloge: diverse
Alte Kataloge: Hermes
Alte Schuhe
Alte Zeiten
Moderne Zeiten
Nebensächlichkeiten
Reiseberichte
Schuhherstellung
Schuhzubehör
Weltuntergang
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren